Ident

Wir alle kennen mittlerweile das Ident-Verfahren. Meistens begegnet es uns bei Eröffnung von Konten durch ein Post-Ident-Verfahren am Postschalter oder durch ein Video-Ident = Identifizierung per Video oder Uploads von Fotos des Personalausweises bei irgendwelchen Portalen. Praktisch ist die gemeinsame internationale Sprachwurzel Ident-ität, -ité , -ity in D/F/E. Unsere emails funktionieren mit einem eigenen, vergleichbaren Ident-Verfahren. Die meisten Menschen hinterfragen nicht weiter ihre Identität bis sie von anderen oder von außen darauf hingewiesen werden. Bei Reisen jenseits der EU wird staatlich verbriefte Identität, meist mit Nationalität gleichgesetzt, dann zu einem Thema. Regionale Identitäten innerhalb eines Staates sind auch ein leidenschaftliches Thema bei Fragen zur Herkunft.
Der Autor Paul Audi hat in seinem Buch zum Thema “Identité” eine der modernen soziologischen Literatur entsprechende Sichtweise auf Identität vorgestellt. Nicht eine, sondern mehrere Identitäten, eine an sich plurale Identität ergibt sich in der modernen Welt mit verteilten Loci der Identität. Das hat Roger-Pol Droit in seinem Editorial von LeMonde des Livres vom 26.8.2022 treffend zusammengefasst. Sicherlich eine viel und kontrovers diskutierte Anregung in Wahlkämpfen. Vereinfachung auf Pass = Identität greift viel zu kurz. Identitäten schreiben Lebensverläufe sowie umgekehrt aus den Lebensverläufen Identitäten entstehen. Teils gemischte, teils neue Identitäten sind dabei im Werden begriffen. Sie sind selten statisch, meistens eher dynamische Verläufe mit komplexen wechselseitigen Beziehungen. Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion sind das was bleibt. Spannende Biografien eben. Eine Fixierung der Identität auf etwa zufällige Herkunftskonstellationen verkennt die Chance Identität als Ziel selbst zu definieren. Daraus ergibt sich ein erweiterter Freiheitsbegriff. Sich eine neue berufliche Identität zu konstruieren, gehört zur Entwicklung von Jugendlichen und mit lebenslangem Lernen gleichfalls zu Lebensverläufen von vielen Menschen. Warum vor Grenzen halt machen. Bilaterale Identitäten (z.B. D-F) gehören zum Alltag. Eine europäische formiert sich (proposition en francais). 

Herkunft

Der Roman von Saša Stanišić mit dem Titel Herkunft ist aus soziologischer Sicht interessant, da der studierte Slavist Saša Stanišić sich mit einem ureigenen sozilogischen Thema befasst. Das macht neugierig. Für die Sozialwissenschaftler*innen unter uns ist eine der Lehrsätze, dass sich Herkunft nicht einfach ablegen lässt. Bei Stellenbewerbungen reicht oft schon die Adresse der Absendenden, um über die Einladung zum Einstellungsgespräch zu entscheiden. Saša Stanišić gelingt jedoch einen frischen Blick auf das Thema zu lenken. Dazu ist der autobiografische Ansatz des Romans (S.13-14), sein Vater ist Serbe, seine Mutter aus einer bosniakisch-muslimischen Familie, ein guter Startpunkt.
“Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, … , die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion.” Auf die Frage eines Verwandten, woher er käme, antwortet der Erzähler (S.32-33): “Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Povenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostum, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als soches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.”
In der Entwicklung der Autobiografie ist die Entwicklung der Mutter wichtig. “Sie hatte die Hindernisse sozialer Herkunft überwunden -.  … als das noch unüblich war, machte sie sich selbstständig.” S. (120) Eine fiktive Herkunft testet der Autor in Gesprächen (S. 182), “Ich sagte, meine Mütter seien Lesbierinnen. Ich sagte, Herkunft ist Zufall …”.  Die weitere Entwicklung auf der Suche nach dem Konstrukt Herkunft kombiniert der Erzähler mit dem Konstrukt und der Realität sozialer Ungleichheit. “Von den Jugos in der ARAL-Crew überhöhte keiner den Wert der Herkunft.” (S.201).  Implizit weist das auf das Überhöhen von Herkunft in anderen sozialen Schichten hin. Diese Verhaltensweise is sicherlich auch präsent in vielen Religionen und Regionen. Saša Stanišić beschreibt visionär: “Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören” (S.221-2). Ein Bonmot oder Lebensweisheit lässt er seine Mutter sagen: “Weißt du, hier hatte immer der am meisten, der am wenigsten Skrupel hatte.” Das hat sich mittlerweile globalisiert und gilt umso mehr in unserem digitalen Zeitalter (GAFAM).
Wie auf dem Weg der sozialwissenschaftlichen Forschung gibt es die Phase des Zweifels an den eigenen Erkenntnissen auf S. 284 kurz vor Schluss. “Ich verstehe das Beharren auf dem Prinzip der Nation nicht … . Ich verstehe nicht, dass Herkunft Eigenschaften mit sich bringen soll, und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in ihrem Namen in Schlachten zu ziehen.” Für Wirtschaftspsychologen kommt noch eine Forschungsfrage. Herkunft könnte in der Vererbung von Präferenzen beruhen. Der Autor und sein Sohn haben die gleiche Lieblingsfarbe. Erneut darf die Großmutter weise gegen Ende sagen: “Es zählt nicht, wo was ist. Oder woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. Und am Ende zählt nicht mal das. Schau mich an: Ich weiß weder, woher ich komme, noch wohin ich gehe. Und ich kann dir sagen: Manchmal ist das gar nicht so schlecht.” (S. 337). Sozialwissenschaftlich inspirierte Fiktion toll gemeistert. Ein Anknüpfen an Themen, die schon die großen Meister der bildenden Kunst beschäftigte, hat mich inspiriert. Für mich knüpft das an die Darstellung von Poussin und die Ausstellung “Le massacre des innocents” im Chateau Chantilly 2017.