Ungleichheit über den Lebensverlauf ist ein datenintensives Forschungsprogramm. Ungleichheit beim Zugang zu Gesundheitsversorgung bei Geburt bis zur Ungleichheit beim Zugang zur Sterbehilfe, alles empirisch belegbare Evidenzen. Piketty macht vor, wie ein umfassendes Projekt zu Ungleichheit dazu aus Archiven und Steuerunterlagen Ergebnisse liefert. Ein dickes Brett, auch das tolle Buch dazu (s.u.). Der Cartoonist von „Le Soir“ (13.7.21) Kroll hat mal seine Vision von Ungleichheit in einer Karikatur zusammengefasst. Ablenken von den eigentlichen Themen #Klimakrise mit spektakulären Aktionen gibt Medienberichterstattung im Überfluss. Aber mal ehrlich, der CO2-Abdruck einzelner Millardäre kann uns nicht mehr kalt lassen. Ungleichheit beim Umweltverbrauch verlangt Schlagzeilen von Einsparrekorden und nicht über abgehobene Umweltverschmutzer. Maskuline Form hier bewusst gewählt entsprechend dem Karikaturist.
Die Rückkehr der Ungleichheit
Thomas Piketty ist ein weiteres epochales Werk gelungen. Die französische Ausgabe seines Buches: “Capital et idéologie”, erschien im September 2019 (Éditions du Seuil) und umfasst 1200 Seiten. Die Fortsetzung von “Capital au XXIème siècle” ermöglicht aufschlussreiche Vergleiche mit anderen Ländern und Kontinenten. Daraus entwickelt Piketty eine Sichtweise auf die ökonomischen Ungleichheiten in Gesellschaften. Eine Perspektive, die ich in die Tradition der politischen Ökonomie einordnen würde. Es ist eindrucksvoll, wie der Anstieg der ökonomischen Ungleicheit seit 1980 dargestellt wird, insbesondere Schaubild 0.3 auf Seite 37. Die Einsicht auf S.39, dass sich die Ungleichheit in 2018 gemessen mit dem Anteil der wohlhabensten 10% einer Gesellschaft am Gesamteinkommen der Gesellschaft zwischen 34% in Europa, 48% in den USA, 55% in Indien, 56% in Brasilien und 64% im Mittleren Osten liegt, erklärt vielleicht schon einige der aktuellen politischen Unruhen.
Besonders intessant wird die Lektüre beispielsweise auf S.758ff. Da wird empirisch die verzerrende Darstellung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf für verschiedenartig ungleiche Gesellschaften dargestellt. Piketty scheut sich nicht die “Instrumentalisierung” einer vereinfachten Darstellung des BIP pro Kopf zu kritisieren. Besonders auf S.760 streicht er die ungleichen (Grund)besitzverhältnisse heraus: “En particulier, la concentration de la propriété n’a en réalité jamais cessé de se situer à des niveaux impressionnants dans les différents pays européens. Or cette concentration patrimoniale est en progression depuis les années 1980-1990, avec à peine 5% du patrimoine privé total détenu par les 50% les plus pauvres, contre 505-60% pour les 10% les plus riches.” Als Zusammenfassung der Daten des 10. Kapitels S. 489ff mit dem Titel: “Die Krise der Gesellschaften der Eigentümer” hat sich der Wert des Eigentums, für alle erlebbar auf den Immobilien und Wohnungsmärkten, insbesondere in großen Städten geutlich zugunsten der Eigentümer entwickelt. Dieser Trend hat insbesondere die Mehrfacheigentümer und obersten 10% der Gesellschaften überproportional begünstigt.
Ungleichheit ist aber nicht unabänderlich. Vielmehr betont Piketty in seiner Schlussfolgerung (S. 1191) in Abgrenzung zum “kommunistischen Desaster” eine soziale Idee oder Sozialismus der Teilhabe und einen sozialen Föderalismus. Wichtiger Bestandteil ist ebenfalls eine Teilung der Stimmrechte und der Macht in Unternehmen mit den Beschäftigten.
Absolut lesenswert. Die englische Version kommt erst in 2020. http://piketty.pse.ens.fr/