Avers

Der kurze Titel „Avers“ der Sammlung von Novellen des Autors J.M.G.Le Clézio lässt keine Wundergeschichten erwarten. Der kleingedruckte Untertitel „Des nouvelles des indésiables“ noch weniger. Dennoch, aus der Sammlung von Kurzgeschichten werden die kleinen Heldinnen und Helden des Überlebens in unserer komplexen Welt vorgestellt. Mal mit, oft ohne „Happy End“ werden Kinderschicksale erzählt, die uns nachhaltig berühren. Schule ist für die kleinen Helden ein Fremdwort. Der tägliche Überlebenskampf für Nahrung, Gefahr von Kinderarbeit, einfach in Ruhe gelassen werden oder dem Krieg zu entkommen, steht im Vordergrund. Fluchtwege wäre für mich ein möglicher Titel einer deutschen Übersetzung. Flucht vor Missbrauch und die Brutalität des Alltags in Kriegsgebieten sollten uns sensibilisieren für „la Misère du Monde“.
Die unerwünschten Novellen von Le Clézio kommen auf leisen Sohlen oder eher barfuß daher. Sie lassen uns die ständige Herausforderung der Humanität spüren. Menschen, Kindern, Menschenwürde ermöglichen, ist nach wie vor eine riesige Aufgabe. Der Ansatz an konkreten Schicksalen aufzuzeigen, wie wenig es oft braucht, damit Kinder eine faire Chance bekommen, muss uns aufhorchen lassen. Obdachlose werden bei Le Clézio zu „fantômes dans la rue“. Wir ignorieren ihre Präsenz allzu gerne.
Nach 60 Jahren Heinrich Böll „Ansichten eines Clowns“ rütteln uns die Novellen von Le Clézio wieder wach. Wirkliche Humanität braucht uns alle und das ständig, nicht nur sonntags. Aversionen ablegen und sich dem Unerwünschten zuwenden, das fordert den ganzen Menschen. Überforderung gilt nicht als Gegenargument. Wir sind viele, helfen wir. (Image: Extrait, Atelier Albrecht Dürer um 1500).