Aphorismen

Eine Sammlung von Aphorismen, wie sie Georg Christoph Lichtenberg hinterlassen hatte, regten viele Denkende an, sich mit seinem Gedankengebäude zu befassen. Die prägnante Form der Zusammenfassungen, Hypothesen oder Vermutungen zu jeweils einem großen Thema hat ihn unsterblich werden lassen. In Form von Gedankenblitzen, Neudeutsch Tweets, vor mehr als 222 Jahren, gestorben ist er im Jahr 1799, zeugen von großem Weitblick, Tiefe und Breite seines Wissens (Polymath). Jede Person, die sich heute in der Schule mit der Infinitesimalrechnung befasst, der mathematischen Annäherung an einen GrenzwertS (Mathe Vorlesungsnotizen pdf), findet bei Lichtenberg zum Beispiel die Anwendung dieser Methode auf soziale Phänomene. Einer Wahrheit werden wir uns auch nur annähern können, selbst wenn wir sie auf unsere Weise, zumindest temporär, als solche definieren.  Vor mehr als 250 Jahren hat Lichtenberg bereits in seinem ersten „Sudelbuch“ interessante Gedanken niedergeschrieben, die uns heute noch Nachdenken lassen. „Unser Leben hängt so genau in der Mitte zwischen Vergnügen und Schmerz, dass uns schon zuweilen Dinge schädlich werden können, die uns zu unserm Unterhalt dienen, wie ganz natürlich veränderte Luft, da wir doch in die Luft geschaffen sind.“
Dem modernen Menschen ist das Bewusstsein, in die Luft geschaffen zu sein, fast vollständig abhandengekommen. Unsere Eingriffe, wider besseren Wissens, lassen weltweit jährlich Millionen Menschen vorzeitig sterben am Smog der Moderne. Innovation ist enervierend, wenn sie nicht vornehmlich den Menschen im Blick hat. Es sollte noch einige Jahre nach Lichtenberg brauchen bis Goethe Faust den Satz sagen ließ: Die Geister, die ich rief, ich werd’ sie nicht mehr los. Lichtenberg setzte das obige Zitat so fort: „Allein wer weiß, ob nicht vieles von unserem Vergnügen von diesem Balancement abhängt; diese Empfindlichkeit ist vielleicht ein wichtiges Stück von dem, was unsern Vorzug vor den Tieren ausmacht.“   Aus dem Akt der Balance den jede/r Einzelne zwischen Schmerz und Vergnügen im Lebensverlauf beschreibt ist längst ein gesellschaftlicher und politischer Balanceakt geworden, zwischen gesellschaftlichen Gruppen sowie zwischen Generationen. Die Abweichungen von einem Grenzwert oder von einem ausbalancierten Zustand sind ebenfalls größer geworden, so dass der ganze Akt ins Wanken gerät. Mit dem beschriebenen, unserem Vorzug vor den Tieren, könnte jedoch ebenfalls ein Teil des Problems sein, denn die Vernichtung der Biodiversität ist nun mal noch die Lebensgrundlage des homo sapiens. Seien es Schwankungen um einen Mittelwert oder immer kleinere Annäherungen an einen Grenzwert, wir wanken auf Pfaden, die Lichtenberg angerissen hat. Blogposts sind wohl vergleichbar den Einträgen in Sudelbüchern.  Aus vielen Puzzleteilen kann ein Gesamtbild entstehen, muss aber nicht. Die Begriffe „Random Walk“ oder „Brownsche Bewegung“ sind erst lange nach Lichtenberg entwickelt worden. Heute sind wir von dem „Random Walker Algorithmus“ begeistert oder erschreckt, wenn letzterer für „fake news“ statt Wahrheitsfindung missbraucht wird.