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“Man soll öfters dasjenige untersuchen, was von den Menschen meist vergessen wird, wo sie nicht hinsehen und was so sehr als bekannt angenommen wird, dass es keiner Untersuchung mehr wert geachtet wird.“ (Lichtenberg S. 50). Eine eindrückliche Warnung sich nicht nur den großen Wellen und Wogen der Öffentlichkeit oder der Wissenschaften hinzugeben. Wo viele nicht hinschauen oder bewusst wegsehen, da gibt es meist einiges zu ergründen. Die Soziologie der kleinen Dinge, der Alltagsgegenstände bringt faszinierende Erkenntnisse hervor. Nehmen wir nur einmal die Bekleidung beim Kochen. Von der Kittelschürze zum gestylten Outfit für die Kochshow zum Gesellschafts-cooking“ haben sich Kleidungsstücke und Berufe in ihrer Funktionalität gewandelt. Dem Anlass entsprechend wird sich gekleidet. Kochen ist von den Hinterzimmern mancherorts ins Zentrum der Gesellschaft mutiert. Wertschätzung von Handwerk und delikate Zubereitung sollten Rekrutierung erleichtern. Bleibt nur noch die Arbeit drumherum. Einkaufen, Einräumen, Einweichen, Abtrocknen, Aufräumen. Die Arbeit geht uns nicht aus, sie verändert sich nur. Wertschätzung der kleinen Aktivitäten, desjenigen, „was von den Menschen meist vergessen wird, wo sie nicht hinsehen“ kann so aufschlussreich sein. Hinschauen und Verstehen lernen bleibt angesagt. Lichtenberg weiter: „Man frage sich selbst, ob man sich die kleinsten Sachen erklären kann; dieses ist das einzige Mittel, sich ein rechtes System zu formieren, seine Kräfte zu erforschen und seine Lektüre sich nützlich zu machen.“ Aphorismen können ein ganzes Forschungsprogramm auf den Punkt bringen und so die kleinsten Beiträge noch als nützlich erweisen. (Foto: Schreibatelier von George Sand in Nohant).

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Lichtenberg hatte den späteren ausufernden Individualismus spekulativ in seinen Aphorismen vorweggenommen. Im ersten Band der Sudelbücher schrieb er bereits: „Je länger man Gesichter beobachtet, desto mehr wird man an den sogenannten nichtsbedeutenden Gesichtern Dinge wahrnehmen, die sie individuell machen.“ (1976, S.25). Unsere Fototechnik und soziale Medien haben eine wahre Revolution durch die Flut der allgegenwärtigen Fotos geschaffen. Was früher der Spiegel war, ist längst der schnelle morgendliche Blick in die Kamera des Handys geworden. Intelligente Spiegel wären also die durch Kamera aufgenommenen und direkt auf einen größeren Bildschirm übertragenen Bilder. Das Hautscannen auf Melanome oder checken von depressiven Phasen könnten eine frühzeitige Erkennung ermöglichen. Sollten wir das wollen? Aus derartigen Hinweisen lässt sich sozial invasiv Gefahren für den Einzelnen, die Einzelne ableiten, aber eben durch Bezug des Einzelfalls auf verallgemeinerungsfähige Vergleichsfotos. Gesichter länger anzusehen, das hat seine sozialen Grenzen. Mit Breughel durften wir das dann. Kindern wird früh erklärt Personen nicht anzustarren, dabei trainieren sie so, was das einzelne Gesicht so singulär macht, die Augen, Ohren, Mund, Zähne, Nase oder Schattierungen. Donatello, gepriesen als der Erfinder der Renaissance, spielte schon mit den Details der Gesichter. Mehr Mut zum längeren Hinsehen sollten wir aufbringen, auch beim Hinsehen auf einfache Charaktere, auf Armut statt Wegsehen. Oft ist David interessanter als Goliath. Die Rahmung des Bronzolino verstärkt geschickt eine zeitgenössische Analogie zum 24.2.2023.