Mangel Armut

Herta Müller hat bereits 2012 in „Das Chinesische Glasauge“ sehr treffend die Funktion von Mangel und Armut in Diktaturen beschrieben. Sowohl der ständige Mangel als auch die Armut dienen als Instrumente der Macht. Sie sind quasi die Fortsetzung von Ideologie zur Beherrschung der Massen. Zusammen bilden sie die Umgebung, den Kontext in dem dort gelebt wird. Die Herrschenden jedoch haben Privilegien, die sie von der Allgemeinheit absetzen. Diese knappe Beschreibung und Einleitung zur Kurzgeschichte haben eine große Portion Allgemeingültigkeit. In Mangel und Armut können kleine Vergünstigungen eine viel größere Wirkung entfachen. Sehnsüchte nach mehr werden nahezu zwingend hervorgebracht. Allein die Aussicht auf ein teilweises Stillen der Erwartungen oder nach mehr entfachen weiteres „höriges“ Verlangen. In Diktaturen werden die Personen, die unaufhörlich auf die Armut und den Mangel hinweisen meist geächtet oder sogar ins Exil gezwungen. Solche Störenfriede sind nicht gern gesehen. Das Russland unter Putin braucht Leute der herrschenden politischen Klasse zujubeln und bereitwillig in den Krieg ziehen oder an der Kriegsmaschinerie mitwirken. Wir sind mehr als eine Dekade weiter, aber diese Zusammenhänge bestehen ebenfalls weiter. Schmuck in der Mangelwirtschaft ist bereits eine Provokation. Das offene Tragen der Provokation kann im schlimmsten Fall das Leben kosten.
(Image: Herta Müller, 2023, Eine Fliege kommt durch einen halbern Wald, Carl Hanser Verlag, “Das Chinesische Glasauge”, S.50-61)