Wagner Kontrovers

Selbst im 21.-ten Jahrhundert lesen wir weiter von Kontroversen um Richard Wagner (z.B Molnar und Molnar 2022 S.161-186). Dazu hat auch das DHM beigetragen mit einer Ausstellung, die interessante Assessoires aus dem Leben Wagners kürzlich in die Vitrinen stellte (s.u.). Neben Dokumenten zu seinem hartnäckigen Antisemitismus, bereicherten die extravaganten Kleidungsstücke, Maßanfertigungen, Beispieldrucke zu seinen politischen Überzeugungen und Dokumente zur kontinuierlichen Geldnot, die Sichtweise auf das musikalische Schaffen des Komponisten. Verliebtheit in kostspielige Details bei gleichzeitigen Überredungskünsten bei Stiftenden und Gönnern, haben sein überragendes Lebenswerk erst möglich gemacht. Die Zusammenschau von Leben der Person und seinem Werk konnte zeitgleich zur Ausstellung über Karl Marx in Nachbarräumen des DHM in 2022 besucht werden. Die überraschende, aber gelungene, Parallele oder Klammer für beide Ausstellungen ist die von beiden auf völlig unterschiedliche Weise betriebene Kapitalismuskritik, wie ein Begleittext und in Führungen durch die Ausstellungen berichtet wurde. Müssen wir zur Freistellung des Schaffens von Wagner dem Vorschlag Adornos folgen, die Musik des Komponisten frei zu machen von seinem Antisemitismus und der späteren Vereinnahmung durch die Nazis? Es fällt mir äußerst schwer, diese Trennung vorzunehmen. Es ist jedoch Wagners eigenen Schriften zu schulden, dass er einen Absolutismus predigte und darauf hinarbeitete. Das Werk „Muette de Portici“ von Auber, welchem er sogar die Revolution in Belgien zuschrieb (Colas 2012 S.26) hatte ihn schwer beeindruckt. In einem Aufsatz „Über deutsches Musikwesen 1840 S.165, schreibt Wagner, zitiert nach Colas, „La Muette entspricht einem Nationalwerke, wie jede Nation höchstens nur eines auszuweisen hat“. Die kurze Zeit Wagners in Paris ab 1839-1842 hat ihn mehr beeinflusst als er zugeben mochte, vielleicht durch Ablehnung in Frankreich sogar in eine dialektische Entwicklungsrichtung hineinbewegt. Die libertäre und kritische Einstellung Wagners zu politischen und wirtschaftlichen Zuständen seiner Zeit, bei gleichzeitigem Ausleben eines extravaganten Lebensstils, lässt den Tonkünstler in zwiespältigem Licht erscheinen. Dieses Facettenreichtum der Persönlichkeit und des Werks kam in der Ausstellung im DHM gut zur Geltung. Ambivalenz aushalten, lehrte diese Ausstellung. Anregen zu weiterer Befassung mit Person, Werk und Wirkung ist die Folge. Bei mir hat das gewirkt. Die in dieser Zeit sich vertiefenden “Mythen der Nationen” (Flacke M. DHM 1998) in europäischen Ländern, spiegeln den Wettstreit der Komponisten um nationale und überregionale Geltung wider. Ein anderer Komponist dieser Zeit, der als Vermittler zwischen den Kulturen wirken wollte, ist dabei etwas in Vergessenheit geraten, sowie viele andere KomponistInnen dieser Zeit, die sich an dem anzettelten deutsch-französischen Kulturkampf nicht beteiligen wollten. Der Tod von Wagner am 13.2.1883 ist 3 Wochen nach Friedrich von Flotow, 1 Monat vor Karl Marx. In dem Jahr veröffentlicht Nietzsche “Also sprach Zarathustra 1.Band”. Bewegte Zeiten.

Kapitalismus Kritik

Das Deutsche Historische Museum in Berlin (DHM) zeigte vom 10.2 bis 21.8.22 die Ausstellung “Karl Marx und der Kapitalismus“. Die Verbindung von Leben, Werk und Wirkung des in Trier geborenen Sozialwissenschaftlers Karl Marx st eindrucksvoll. In einer knapp gehaltenen Dokumenten- und Exponatensammlung wird die Bedeutung von Marx für die Weltgeschichte durch seine Kapitalismuskritik deutlich. Viele schreckliche Taten wurden in seinem Namen ausgeübt. Dabei geht oft die wissenschaftliche Analyse, die von ihm betrieben wurde unter. Gerade in seinem Verständnis von wirtschaftlichen Krisen hat er Beiträge geleistet, die uns in der Bankenkrise 2007 nochmals klar geworden sind. Weiterhin sind die Arbeiten zur Ungleichheit zwischen Kapitaleignern und Beschäftigten eine grundlegende Herangehensweise geblieben, die von SozialwissenschaftlerInnen auch im 21.-ten Jahrhundert, beispielsweise von Piketty fortgesetzt und mit aktuellen Daten nahezu weltweit untermauert werden. Die Folgen der industriellen Revolution, die er damals erforschte, befasst uns heute wieder in anderer Form zum Beispiel mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Beschäftigung und Lohngefüge. Selbst den von ihm geprägten Begriff der Ausbeutung, verwenden wir weniger auf Beschäftigung, als auf die Ausbeutung der Natur oder unserer Umwelt zugunsten von einseitiger Kapitalvermehrung. Kurz gesagt: Karl hat keinen Murx gemacht, sondern Methoden und Analysen geliefert, die noch die heutigen Jugendlichen und nächsten Generationen beschäftigen werden. Damit wird das DHM einem Postulat gerecht, das bereits bei der Eröffnung des Historischen Museums Frankfurt von Hilmar Hoffmann formuliert wurde: “Ein demokratisches historisches Museum ist kein Museum, das Kriegschroniken in goldenen Lettern schreibt oder die Mächtigen zu Übermenschen stilisiert. Es informiert vielmehr über die Geschichte des Volkes, über die Sozialgeschichte der Durchschnittsmenschen”. (S.33 in DHM Ideen-Kontroversen-Perspektiven 1988). Zu all diesem hat die Ausstellung “Karl Marx und der Kapitalismus” unzweifelhaft einen guten Beitrag geleistet. Was bleibt? x-tausend BesucherInnen und ein dicker Katalog. Reicht das?  Wirkungsforschung zu Ausstellungen könnte hilfreich sein.

Merkel

Angela Merkel gehört nun endgültig zur Geschichte. Zuerst die Ausstellung von Merkel-Porträts von 1919-2021 der Fotografin Herlinde Koelbl im DHM mit Katalog erschienen bei Taschen, kürzlich das Interview des Spiegelredakteurs und die Quintessenz daraus in LeMonde vom 29.11.22, zusammengenommen eine kleine Bilanz der Amtszeiten.  Die Porträts (1) in Draufsicht 2/3 des Bildes durch das Gesicht ausgefüllt und (2) stehend mit Händen zur Raute geformt, zeigen das Altern durch die Last der Ämter. Ist die Raute anfangs noch mit Druck und weit abgesreizten Fingern zu sehen, wird die Geste im Laufe der Amtszeit lust- und kraftlos. Der Gestaltungswille noch als Umweltministerin hat sich durch Getrieben-sein später abgenutzt. Das Bild 13 der Pressemappe zeigt die Kanzlerin 2020 mit Maske und nur noch 2 Fingern jeder Hand, die sich berühren. Aus der Versuch der Quadratur des Kreises in Amts-, Partei- und Koalitionsgeschäften. Auch das Bild auf S. 243 des Katalogs von 2021 spiegelt eher eine gequälte Kanzerlin statt eine streitbare Verfechterin ihres Amtes wider. In Rückschau erscheint es wohl doch zu lange gewesen sein für den Menschen Merkel. Der Verweis auf das freiwille Ausscheiden aus den Ämtern ist nur die halbe Wahrheit. Im Spiegel Interview (ab Minute 12!) berichtet Frau Merkel von 2 Dingen, die sie sich jetzt vorgenommen hat: mehr bewegen und mehr lesen. Das trifft es auf den Kopf.
Mehr bewegen, eben gerade in der Politik hätten sich Millionen von Deutschen gewünscht, dass sie mehr bewegt auf wichtigen Themen- und Politikfeldern. Überall da zum Beispiel, wo wir nun wissen, wir hinken hinterher: Klimaschutz, digitale und öffentliche Infrastruktur, Verteidigungssysteme, Bekämpfung von Ungleichheit, Steuergerechtigkeit, nachhaltigen Verkehr in Städten und auf dem Land, um nur einige zu nennen.
Mehr lesen, offenbart, das Hören auf Einflüsterer hatte einen hohen Stellenwert, scheinbar mehr, als das Erarbeiten einer eigenen Position durch Aktenstudium. Die Regierungskunst der Kanzlerin bestand hauptsächlich im geschickten Moderieren der unterschiedlichen Positionen innerhalb der Koalitionspartner, insbesondere auch mit der CSU. Im Rückblick heute kommen mir die 16 Regierungsjahre als Zeit der verpassten Chancen vor, aber die Bescheidenheit im Amt hat Deutschland gut gestanden. Das hat Olaf Scholz bei ihr abgeguckt, nur, ihr Nachfolger ist zu beherztem Handeln im Amt gezwungen. Das blieb Angela Merkel weitgehend erspart. Jetzt ist Bewegung gefragt, Aufholbewegung zunächst. Stillstand überwinden, Planungsverfahren verkürzen damit erneuerbare Energien sprießen.

Ukraine Kultur

Einen wahrlich denkwürdigen Abend hat das Festival “Aus den Fugen” im Berliner Konzerthaus ermöglicht. Das “Youth Symphony Orchestra of Ukraine” ist zusammen mit Stars ukrainischer Herkunft am Samstag 26.11.2022 im großen Saal des Konzerthauses aufgetreten. Auf dem Programm stand zu Beginn vom Meister der Kunst der Fuge, J.S. Bach, das Streichquartett, “Verleih uns Frieden gnädiglich”, passend zur Vorweihnachtszeit. Rasch wird aber klar, dass der Überfall auf die Ukraine am 24.2.2022 die Welt für viele aus den Fugen geraten lies. “Die Zeit ist aus den Fugen” deklamierte bereits Hamlet. Erneut bestimmt Krieg und Kriegswirtschaft unsere Handlungen, geschuldet dem russischen Tyrannen, der versucht hat und weiterhin versucht, die ukrainische Kultur auszulöschen. Das Konzert des YSOU setzt weiterhin Zeichen, dass diese reichhaltige Kultur es wert ist, gehört und gesehen zu werden. Die Kompositionen von Mykola Lysenko, Suite über ukrainische Themen op2 oder die Arie der Nastia sind eindrucksvolle Beispiele der frühen Selbständigkeit der ukrainischen Musiktradition. Das Lied “Schtschedryk“, zum Mitsingen, als Abschluss des Konzerts wird lange nachhallen im großen Saal des Konzerthauses und bei dem begeisterten Publikum. Die Präzsion der Dirigentin Nataliia Stets ist beeindruckend und ihr kurzer Hinweis auf den “Holodomor” – den “genuzidalen Hungerstod in der Ukaine um 1932″ zwischen den Stücken, hilfreich für das Verständnis des ukrainischen Aufbäumens heute und das Gedenken an Völkermorde, besonders auch die von Deutschen begangenen. Dank auch an die Solistinnen des Abends, die die Jugend und das Publikum begeisterten.

Stabi Ost

Die Staatsbibliothek zu Berlin hat 2 Standorte: Unter den Linden im Ostteil und Potsdamerstraße im Westteil der Stadt. Inhaltlich muss ich mal hierhin und mal dahin. Das macht nichts, denn es lässt sich so die Architektur und die Kunst am Bau vergleichen, als Begleiterscheinung. Meine Lieblingswerke sind die Leuchten in der Stabi West und die Uhren in der Stabi Ost. Die Architektur des frühen 20.-ten Jahrhunderts im Osten ist eher furchterregend und nicht wirklich einladend finde ich. Damals waren in Deutschland Bibliotheken noch elitären Kreisen vorbehalten, wie in der Bibliothèque nationale de France in Paris hatte die Stabi Ost einen runden Lesesaal, der wurde aber in dem Wiederaufbau nicht erhalten. Die eckige Variante in der Mitte der historischen Außenwände erscheint ungemütlich und in der Tat braucht die ungemütliche, unrühmliche Geschichte Deutschlands ständig solche Erinnerung daran. Neues Licht auf die historische Schatten werfen, durch die transparente Dachkonstruktion, ist in der historischen Sammlung an den Rändern jedem Nutzenden möglich. Das Treppenhaus ist in der offenen Bauweise der Stabi West mit den Leuten (allerdings aus Plastik) einladender. Aber das sollte jeder selbst auf sich wirken lassen. Heute profitieren wir von der Zugänglichkeit bei kostenloser Nutzung der Säle und Bestände in Berlin und der zentralen Erreichbarkeit beider Bibliotheken.

China altert

Zurückgehend auf die frühere strikte 1 Kind Politik erhöht sich der finanzielle Wohlstand der Chinesen alleine dadurch, dass das gleiche BIP auf weniger Köpfe verteilt werden muss. Eine Generation später ergibt sich aber durch das rasche Altern der Bevölkerung eventuell ein hohe finanzielle Last für weniger Beschäftigte bei gleichzeitig mehr älteren Menschen. Die Beschäftigungsquoten der älteren Menschen waren niedrig im Vergleich zu Europa, das bedeutet ein gestresstes System zur Finanzierung der Renten und, wie eine neue Studie (Lancet Public Health 2022) zeigt, für die Pflege der Älteren. Bis 2030 werden laut der Studie bis zu 14 Millionen Menschen zusätzlich Pflege benötigen. Das betrifft überwiegend Frauen und Personen im ländlichen Raum. Das ist bei uns auch so, denn Zugang zu ärztlicher Hilfe, Krankenhäusern und Unterstützung im täglichen Leben ist aufwendiger bei größeren Entfernungen und Fachkräftemangel. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit hängt stark von dem gesunden Altern ab. Dies ist wiederum vielfach bedingt durch Bildungsniveaus und Lernfähigkeit und -wille im Alter bezüglich der eigenen Gesundheit.  Bewegung ist der Schlüssel zu mehr Gesundheit. Damit lässt sich die Pflegebedürftigkeit lang hinauszögern. Also raus, auch wenn es frisch ist. Open access Lancet paper (hier)

Hommage Ukraine

Viele westliche Demokratien waren überrascht über den aufopfernden Freiheitswillen der Menschen in der Ukraine. Die „Sonntagsdemokraten“ unserer westlichen Staaten bewegen sich alle 4 Jahre zu 2/3 an die Wahlurne und glauben, wir haben genug getan für die Demokratie. Wahlen sind eine wichtige demokratische Basisentscheidung, egal ob es sich um repräsentative oder direkte Wahlen von Personen handelt. Aber demokratische Systeme leben von dem immer wieder Einstehen für diese Werte der Wahlfreiheit und der unveräußerlichen Menschenrechte. Dazu ist es für alle Demokraten wichtig zu verstehen, wie diese Antriebsfeder des ukrainischen Widerstands gegen eine übermächtig erscheinende Militärdiktatur Russland funktioniert. Anfänglich war es nicht die militärische Hardware, die entscheidend bei der Verteidigung war, sondern ja was? Kulturelle Werte, Geschichtsbewusstsein, Selbstbestimmungsrecht, Völkerrecht, Menschenrecht? Dazu ist im Verlag Stock (F) und Knigolove (Ukr) das Buch „Hommage à l’Ukraine“ erschienen. Emmanuel Ruben schreibt darin im Vorwort: „Dank an die Autoren, uns diese Erzählungen zu übermitteln, die heute in höchstem Maß, die Idee eines starken und geeinten Europas symbolisieren“ (S.18). Das einleitende Zitat von Boris Khersonsky « Les enfants, ceci est une lecon de géographie. Voici la carte. On s’en souviendra » (S.11 und 145) hat mich elektrisiert. Seit Tagen verfolgte ich die Verteidigung und Rückgewinnung der Stadt Kherson in der gleichnamigen Region Kherson in der Ukraine von den russischen Besatzungstruppen. Clausewitz hatte diese präzise geografische und topografische Kenntnis bereits als oft kriegsentscheidend in konventionellen Kriegen betont. Jenseits dieser Militärstrategie ist es wichtig zu verstehen, wie tief diese Ortskundigkeit gehen kann. Der erste Beitrag von Luba Yakymtchouk mit dem Titel „Maison Mon Amour“ spricht von Heimat und erzwungener Veränderung. Es reicht meist, die Augen zu schließen, schon erscheint ein Stück Heimat. Aber dieses Gefühl ergibt sich auch im Denken an Personen und Objekte, die diese vertraute Umgebung inkarnieren. Es sind wir, die diese Verbindungen kappen oder an neue Orte mitnehmen. „Avec le temps, les bons souvenirs feront oublier les mauvais. Et nous construirons avec tout cela une nouvelle et véritable maison. Oui, une maison peut se réduire à la surface de ton corps, des paupières peuvent suffire à la protéger du danger, mais elle peut aussi résider dans les personnes que nous aimons, … (S.39). Boris Khersonsky ist mit den Gedichten « Déflagration 1 und 2 » in dem Band vertreten. Aus der Lektion in Geografie wird eine Geschichtslektion, sogar eine Handlungsanweisung zum würdevollen Überleben. „Tout quitter demande à préparer son plan. Et de la lâcheté. C’est ce qui me manque tant !“ (S. 158 Übersetzt von mir:) Alles verlassen, verlangt, seinen Plan vorzubereiten. Und Feigheit. Das ist es, was mir so fehlt! – So erklärt Boris Khersonsky für mich den unbeugsamen Willen, die Stadt Kherson für die Ukraine zurückerobern zu wollen.

The world according to Putin

Das Centennial Issue von Foreign Affairs (Vol.101, Nr.5) trägt die Überschrift „The Age of Uncertainty”. In der Tat müssen wir mit einigen scheinbaren Gewissheiten aufräumen. Da ist einerseits die Gewissheit der große Staat im Osten hegt friedliche Absichten, andererseits ist das Verlassen auf Beistand ohne feste Bündnispartner geopolitisch naiv. Das hätten wir eigentlich seit den Schriften von Clausewitz theoretisch und mittels historischer empirischer Evidenz aus den beiden Weltkriegen wissen müssen. Unser Geldbeutel, sprich billige Energie, sowie eine durch wirtschaftliche Interessen geleitete Doktrin „Wandel durch Handel“, oder wie die Bremer Handelskammer seit der Hanse sagt „buten und binnen, wagen und winnen“ hat uns geblendet. Der Handel hat dem Westen ermöglicht, auf hochwertige, innovative, technologisch anspruchsvolle Produkte zu setzen und auch Russland in die „Rohstofffalle“ zu befördern. Einfaches Geld verdienen ohne viel Aufwand war die Devise, da durch Handel höherwertige Produkte eingekauft werden können. Gesellschaftlichen Wandel wollten die Russen sich ersparen. Mal sehen, ob diese Strategie weiterhin aufgehen wird. Der Beitrag „The world Putin wants“ (S.108-122) von Fiona Hill und Angela Stent ist dabei eher skeptisch und sieht den Angriffskrieg gegen die Ukraine als (letzten) Versuch, das Russische Imperium wiederherzustellen und zwar das der Zaren, bevor die Bolsheviken die Ukraine als eigenen Staat (Ukrainische Sozialistische Republik) etablierten (S.111). The Russian limited logic is as follows: If you are not Russian you must be a Nazi, if Ukrainians say they are not Russian, therefore they are Nazis. Dabei ist der rhetorische Kniff ganz einfach: Um von eigenen nationalistischen und völkischen Ambitionen abzulenken, müssen andere Staaten wegen Nationalismus/Imperialismus angeklagt werden (Beitrag von Timothy Snyder S.124-141). Eine einfach zu durchschauende Strategie, aber immer noch fallen viele Länder innerhalb der UN darauf rein. „The world according to Garp“ von John Irving könnten wir wieder lesen, oder ansehen, als Lehrstück über Toleranz und Intoleranz, sozusagen als Gegenmittel.

Open access

Foreign Affairs = Auswärtige Angelegenheiten ist der Name einer hervorragenden politikwissenschaftlichen Zeitschrift, die Einordnungen und Analysen sowie Ausblicke auf internationale Politik open-access publiziert. War früher ziemlich teuer und ich suchte eigentlich seit meiner Jugend Bibliotheken auf, die diese und andere Wissensquellen zur Verfügung stellten. Die pay-wall zu relevantem Wissen fällt mehr und mehr. Das ist wichtig, da das meist öffentlich kofinanzierte Wissen nicht zu privatisierten Gewinnen führen sollte. Der rasche und kostengünstige Wissensaustausch und dessen Erweiterung ist ein fundamentales demokratisches Grundrecht. Dazu gehört dann wohl auch der Zugang über öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken oder andere Orte mit freiem Zugang zum Internet für das Abrufen der Informationen. Gerne auch als pod- oder videocast, damit Lesen nicht als einzige Aufnahmemöglichkeit der Information bleibt. Ob Webseiten, youtube shorts oder tiktok, twitter, mastodon, sorgen weiter für die breiteren Formen der möglichen demokratischen Teilhabe. Es werden täglich mehr Sender auf die gleiche Anzahl von Empfängern losgelassen. Neben viel mehr von dem Gleichen, gibt es eine reale Möglichkeit, auch die inhaltliche Vielfalt der Meinungen zu erhöhen. Das ist demokratische Chance und „fake-news-Gefahr“ zugleich. Auch Wissenschaft und öffentlich-rechtliche Medien sind dadurch herausgefordert. Ignorieren der technischen Möglichkeiten für die Massen geht nicht mehr lange gut. Das Rüberschieben von viel  steuerfinanzierten Geldern in diese beiden Sektoren kommt in unruhiges Fahrwasser. Frankreich hat seinen „Rundfunkbeitrag“ bereits aufgekündigt. England streicht heftig bei der BBC. Mit mehr „open access“ werden die Intermediäre wie Rundfunk und synthetisierende Wissenschaft in breitere Hände übergehen. Daraus ergibt sich das zukünftige „Skillset“ und Kompetenzen der nachfolgenden Generationen. Nicht mehr einpauken, sondern kritisches Reflektieren und Abklopfen von Informationen auf Zuverlässigkeit und Wahrheitsgehalt, Trennen von Meinungsmache und Information, Stimmungsmache und Volksverhetzung, Fakten und Urteil, das sind die fundamentalen Kompetenzen auf denen unsere Demokratien aufbauen. Bildung ist das falsche Wort dafür, es braucht kontinuierliches Lernen, damit „open access“ fruchtbar und nicht furchtbar wird. open access BnF Richelieu

Kunst am Bau

In der Ausstellung „Kunst am Bau“, anzusehen als Abschluss der Ausstellungsserie in der Staatsbibliothek in Berlin, Potsdamer Straße bis Januar 2023, lässt sich trefflich über Kunst streiten. Es ist gleichzeitig ein gelungenes Experiment die offene Diskussion über Kunst, hier Kunst am Bau, zu befördern. Natürlich ist sowohl die Kunst am Bau an sich, als auch den Ausstellungsmachenden vornehmlich an Selbstinszenierung gelegen, jut sichtbar in den kurzen Präsentationsvideos der Ausstellung. Selten ist der dialektische Dialog, also eine Selbstinszenierung mit Bescheidenheit oder kritischer Selbstreflektion verbunden. Obwohl gerade Kunst dafür eine der Moderne angepasste Denkweise widerspiegeln könnte, ist die Kunst am Bau meistens erst im Nachgang der Umsetzung der Architektenpläne, Wettbewerbe und Realisierungen beauftragt mit wenigen Ausnahmen. Wichtig ist bei aller Kritik das „Zur-Diskussion-Stellen“ der Kunst, wie es die Ausstellungsserie versucht. Wissensforschende fragen dabei nach einer seriösen Evaluation solcher öffentlichen Aktivitäten eines selbstinszenierenden Wanderzirkuses. Die digitale Version „Museum der 1000 Orte“ beeindruckt mehr. Dort können für jeden sichtbar die Kunstschätze in Bundesbauten besichtigt werden (2D only). Mich hat Daniel Buren im BMAS fasziniert (la grande fenêtre 2001). Die Strahlkraft noch mehr seit der „Zeitenwende 2022 “ zur Geltung. Mit knapp unter 100.000 € ist ein fairer Preis damals dafür gezahlt worden, heute wohl schon deutlich mehr wert. Meine Spontanevaluation, basierend auf der Bedeutung den Geflüchteten aus der Ukraine rasch Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen zu wollen, die im BMAS erarbeitet wurde, könnten wir vielleicht diesem täglichen Anblick im Ministerium verdanken. Schöne Spekulation über die möglichen Anstöße von Kunst.

Du sollst mehr lesen

In unseren hektischen Zeiten, kommt so ein Aufruf immer passend. Statt Reisen kann ja auch online erkundet werden. Alles bildet, heute multimedial versteht sich. Dennoch lässt es sich wunderbar statt im stillen, heute kalten, Kämmerlein in öffentlichen Bibliotheken stöbern oder recherchieren. Die Bibliothèque nationale de France hat dazu eine alte gute Stube renoviert und richtig herausgeputzt. Die Kathedralen der Moderne in Stockholm, Brüssel mal flämisch, mal frankophon setzen auch bereits auf Zugänglichkeit für alle. Das Konzept war bereits in Paris in den aufgestellten Büchern, der Bibliothekstürme der BnF präsent. Begehbare Bücher samt Garten, Ausstellungen und Treffpunkten ziehen viele Besuchenden an. Mit dem historischen Standort Richelieu im Zentrum von Paris nahe Chatelet ist eine neue Dimension entstanden. Ob es gelingen wird, Touristen zu Lesenden und zu Lernenden weiter zu entwickeln, bleibt eine wichtige Frage für das Überleben unserer Kulturen und Demokratien. Neben der zur Schaustellung von Büchern gibt es auch Zugang zu neuen Medien und ein Set für virtuelle Realitäten zu Ausstellungen moderner Künstler seit dem Impressionismus. Die Verknüpfung von Kunst-, Geistes- und Architekturgeschichte mit aktuellem Design (neue Designerstühle) ist gelungen, Probesitzen eingeschlossen. So erschließen sich neue Traumwelten und harte Realitäten in einem Zug.

Sparen na klar

Die Apelle zum Sparen von Gas wirken. Das zeigt die Statistik der Bundesnetzagentur. Der Verbrauch im außergewöhnlich kühlen September war noch auf der Durschnittslinie der Verbräuche vorheriger Jahre, aber der sehr warme Oktober (LeMonde 29.10.22 berichtet bereits von 6° über dem Mittel in Frankreich) hat uns zu einer deutlich geringeren Verbrauchszahl für Gas für Haushalte und Unternehmen kommen lassen. Entsprechend purzeln die Gaspreise (TTF in Amsterdam). Mal sehen, ob das bei den Verbrauchenden auch ankommen wird. “Sparen, kann ich”. Das könnte das Motto des Winters werden. Manche Verhaltensänderungen reagieren nicht nur auf Preissignale, wie der Mainstreamökonom uns gerne glauben lässt, sondern eben auch auf Apelle. Okay, ich bekenne mich dazu. Bei mir ist der Waschlappen und warme Pullover auch wieder aus den tiefen des Kleiderschranks hervorgekommen. Sparen für die Freiheit ist doch ein edles Ziel. Mal sehen wie lange wir alle das Durchhalten werden. Zur Motivtion lässt sich der Gasverbrauch in D bei der Bundesnetzagentur aktualisieren. Der deutsche Wetterdienst sammelt die Daten für Durchschnittstemperaturen. Der Oktober war ca 3° wärmer als längerfristige Durchschnitt.

Quelle Bundesnetzagentur zuletzt abgefragt 14.11.22

Fukushima

Ein Bericht über die Explosionen von 2 Blöcken des Kernkraftwerks Fukushima lassen uns Menschen ziemlich dumm aussehen. Wir glauben, alle möglichen katastrophalen Ereignisse vorhersehen zu können und werden doch wieder des besseren belehrt. In der Buchserie der Presses Universitaires de France (PUF) erschien in 2022 “Un récit de Fukushima” in dem der Direktor des Atomkraftwerkes vor der Untersuchungskommission berichtet, wie genau die verschiedenen Ereignisse Erdbeben und Tsunami mit der Verkettung von offensichtlichen menschlichen Fehlentscheidungen einhergingen. Planungsfehler, wie zu tief liegende Notstromaggregate, da rasch überflutet, sowie Kosteneinsparungen bei Vorsorge gegen als unrealistisch eingestufte Risiken (so starkes Erdbeben, Tsunami) haben die Katastrophe ermöglicht. Nach Tschernobyl haben wir nun Saporischschja fürchten gelernt. Das Atomkraftwerk Mykolajiw steht wohl als nächster Schrecken auf der Liste. Neben Planungsfehler, Kostensparen und menschlichem Versagen kommt nun die Gefahr von Nuklearkatastropen auf die Liste des Kriegsarsenals. Nicht als Bombe, wie wir bisher annahmen, sondern als nicht schützbare Infrastruktur, die kaum zu verstecken ist. Der nächste Tabubruch ist realistischer geworden. Die Kosten für Abwehrraketensysteme neben jedem Atomkraftwerk wohl etwas teuer und eventuell ineffizient. Wer befasst sich mit derartigen verbotenen Gedanken? Die Schrecken des 21.-ten Jahrhundert könnten sich als noch schlimmer gestalten als wir zu denken wagten. Atomkraft: die Geister, die ich rief, ich werd’ sie nicht mehr los.
Also eine dezentrale Energieversorgung durch Wind und Solar mit 100.000-den von kleinen Anlagen, in Gärten und auf Dächern erscheint als realisierbarer Lösungsansatz. Warum sagt das kaum eine/r? “Everyday for future” its easy. Mehr grüne Energie für Frieden = Greenpeace mal anders.

Ident

Wir alle kennen mittlerweile das Ident-Verfahren. Meistens begegnet es uns bei Eröffnung von Konten durch ein Post-Ident-Verfahren am Postschalter oder durch ein Video-Ident = Identifizierung per Video oder Uploads von Fotos des Personalausweises bei irgendwelchen Portalen. Praktisch ist die gemeinsame internationale Sprachwurzel Ident-ität, -ité , -ity in D/F/E. Unsere emails funktionieren mit einem eigenen, vergleichbaren Ident-Verfahren. Die meisten Menschen hinterfragen nicht weiter ihre Identität bis sie von anderen oder von außen darauf hingewiesen werden. Bei Reisen jenseits der EU wird staatlich verbriefte Identität, meist mit Nationalität gleichgesetzt, dann zu einem Thema. Regionale Identitäten innerhalb eines Staates sind auch ein leidenschaftliches Thema bei Fragen zur Herkunft.
Der Autor Paul Audi hat in seinem Buch zum Thema “Identité” eine der modernen soziologischen Literatur entsprechende Sichtweise auf Identität vorgestellt. Nicht eine, sondern mehrere Identitäten, eine an sich plurale Identität ergibt sich in der modernen Welt mit verteilten Loci der Identität. Das hat Roger-Pol Droit in seinem Editorial von LeMonde des Livres vom 26.8.2022 treffend zusammengefasst. Sicherlich eine viel und kontrovers diskutierte Anregung in Wahlkämpfen. Vereinfachung auf Pass = Identität greift viel zu kurz. Identitäten schreiben Lebensverläufe sowie umgekehrt aus den Lebensverläufen Identitäten entstehen. Teils gemischte, teils neue Identitäten sind dabei im Werden begriffen. Sie sind selten statisch, meistens eher dynamische Verläufe mit komplexen wechselseitigen Beziehungen. Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion sind das was bleibt. Spannende Biografien eben. Eine Fixierung der Identität auf etwa zufällige Herkunftskonstellationen verkennt die Chance Identität als Ziel selbst zu definieren. Daraus ergibt sich ein erweiterter Freiheitsbegriff. Sich eine neue berufliche Identität zu konstruieren, gehört zur Entwicklung von Jugendlichen und mit lebenslangem Lernen gleichfalls zu Lebensverläufen von vielen Menschen. Warum vor Grenzen halt machen. Bilaterale Identitäten (z.B. D-F) gehören zum Alltag. Eine europäische formiert sich (proposition en francais). 

Was macht die Kunst

Das Leben in Metropolen erlaubt es, an fantastischen Wochenenden teilzunehmen ohne viel CO2-Aufwand. So konnten wir an dem “Brussels Galery Weekendmit längeren Spaziergängen von Galerie zu Galerie schreiten und Inspirationen sammeln. Mit Blick über die Jahre hinweg, zeigt sich viel Kontinuität im Kunstbetrieb trotz Corona-Unterbrechung. Das Home-Office-Syndrom ist erklärter Einfluss in den Arbeiten von “Michael Cline” (Nino Mier Galery Brussels) mit Hinwendung zu introvertierter in matten Farben erscheinenden Pflanzenansichten. Philosophisch angelehnt an den späten Voltaire, der sich nach bewegtem Leben und Schreiben, vorwiegend seinem Garten und Pflanzen gewidmet hat.
Politisch anregender und streitbarer geht es da schon die letzten 30 Jahre (!) bei den kollaborativen Künstlern “Lucy + Jorge Orta” zu. Seit Ausstellungen zur COP21 im Grand Palais in Paris und vielen anderen gibt es eine Zusammenschau nun in Brüssel bis 12.11.22 im “Patinoire Royale” bei der Galerie Valérie Bach (engl) zu sehen.
Also, was macht die Kunst? Sie lebt nach der Krise, wie vor der Krise und in der Krise und hyperventiliert. Aber, wer schaut noch hin und lässt sich anrühren. Längst erschlägt uns die Bilderflut des täglichen Medienrummels. Dabei haben wir die Hoheit über unsere Augen und Ohren. Auffallend ist die Inszenierung der meisten Galerien als Ruheräume, oft etwas abseits der Hauptstraßen und mit Hinterhöfen oder -gärten. Auch diese Kathedralen der Moderne generieren Kraft aus Stille gepaart mit Anregung.

Hitze

Hitze zu Land und zu Wasser wird uns jährlich größere Sorgen bereiten (The Lancet Studien). Gegen Kälte wissen wir seit Generationen uns gut zu schützen. Hitzestress ist die neue Herausforderung. Stadt, Land und Gewässer darauf besser vorzubereiten sollte uns intensiv beschäftigen. Prävention ist gefragt, damit wir nicht erst durch eine später dokumentierte Übersterblichkeit für die Hitzemonate aufwachen, wenn es mal wieder zu spät ist. Isolierung, Reflektion, Verdunkelung sind gefragt auch wenn lichtdurchflutete Räume und Dachgeschosswohnungen doch so angenehm sind. Sommertauglich sind die meisten Dächer erst mit starken stromfressenden Klimaanlagen. Kältespeicher durch Grünanlagen und Wald- und Wassergebiete erleichtern Hitzestress in benachbarten Wohngebieten. Weniger Bodenversiegelung wird helfen, auch der Rückbau von zugeteerten Flächen (Parkplätzen) wird Erleichterung bringen. Viel Um- bzw. Vordenken ist gefragt, Zeit damit anzufangen und an die Umsetzung zu gehen auch.

Lange Schatten

Bestimmte Ereignisse im Leben von Menschen werfen lange Schatten. Das ist ein viel beforschtes Thema (z.B. critical life events research). Einen frischen Blickwinkel aus autobiografischer Perspektive ergänzt Andreas Fischer mit seiner autobiografischen Erzählung “Die Königin von Troisdorf“. Er steht buchstäblich im langen Schatten seiner Großeltern, Eltern, Tanten und Onkeln. Mit viel Details widmet sich der Autor den Nachwirkungen von Kriegserfahrungen seiner Familie, hauptsächlich denen des 2. Weltkriegs auf die Psyche. Das Schweigen zu den oft traumatisierenden Kriegserfahrungen schafft neuerliche Barrieren, die in die Gegenwart fortwirken. Verbindugen zwischen den Generationen lassen sich erzählerisch gut darstellen, insbesondere das Sich-ineinander-verschränkende der Beziehungen und Erfahrungen. Dabei gibt es Kernschatten und Halbschatten, aber selten klares Licht auf Geschehnisse. Einzig die langen Nachwirkungen werden offensichtlich. Dabei könnte anstelle des Schweigens der Generationen zu den eigenen Erfahrungen und denen der (Groß-)Eltern durch Berichten im Familienzusammenhang vorzüglich als Lernkontext für alle und nachkommende Generationen dienen. Nach den vielfach gescheiterten Aufklärungsversuchen der 68er- Generation, hatte sich eine neuerliche Schweigewelle ausgebreitet, die erneut zu brökeln scheint (vgl. Henri-Nannen, vielfach Straßennamenänderungen). Bis zur Kriegswende 1942 wurden große Pläne geschmiedet (damals schon in Verbindung mit einer Besetzung der Ukraine S. 215-6). Das nachwirkende Trauma besteht wohl neben den vielfach beschriebenen direkten Kriegsverletzungen auch in dem Zerborsten der euphorisierten Zukunftsträume der Kriegsgenerationen aller Altersklassen. Aus Kindheitsträumen wurden offensichtliche Illusionen oder gar tiefsitzende, externalisierte Enttäuschungen. Verdrängte Schuldfragen und Wahrheitsverweigerungen mussten über Jahre aufgearbeitet werden. Die abgekürzte Entnazifizierung hat die Länge der Schatten innerhalb der Gesellschaft und der Familien nur vergrößert. Halbschatten ist eben nur halb im Schatten und schon halb im Licht. Bildquelle: http://didaktik.physik.hu-berlin.de/material/forschung/optik/anfangsoptik/schatten.htm

Spitzel

Warum der Tagesspiegel bei meinem früheren alteingesessenen Zeitungshändler “Spitzel” hieß, ist mir lange nicht klar gewesen. Ein ungutes Gefühl bei den gelegentlichen Käufen ist geblieben. Das Schimpfwort “Springerpresse” war schlimmer und “Lügenpresse” ist eindeutig ein Pressefreiheit misachtendes Statement. Der Unterschied zwischen Meinungen, wie und welche Meinungen in der Presse erscheinen kann verzerrt sein. Im großen und ganzen können wir mit unserer Presselandschaft in der globalen Aufmerksamkeitsökonomie noch zufrieden sein. Das Sinken der Zeitungslesenden um ca. 50% in den letzten 20 Jahren ist zwar recht dramatisch, aber hat vielfältige Gründe. Wenn aus Berichterstattung zunehmend Meinungs- oder Stimmungsmache wird, werden Personen, die Informationen suchen sich an andere Medien halten.
Es ist verständlich, Printmedien brauchen andere Finanzierungsquellen als Abos und Laufkundschaft (Grenze irreführende Werbung). Den “local turn” der Lesenden bei gleichzeitig Qualitätsbewusstsein bei überregionalen Zeitungen, was Auflagen steigen lässt, hat der “Spitzel” vollzogen. Da Überregionalität in Deutschland kaum mehr zu erreichen ist, begibt sich der “Tagesspiegel” auf die “Spitzel”-Variante. Mit 12! lokalen Teilen allein in Berlin gibt es fast für jeden Bezirk einen Spitzel. Diese Person berichtet meistens Trivialitäten aus dem Bezirk, erreicht aber wahrscheinlich, wegen dem alternativen Bezahlmodell (à la Google, Facebook etc. mit gezielterer Werbung + viel Eigenwerbung) und nur scheinbar kostenlos, eine breitere interessierte Öffentlichkeit. Gezielte high impact Werbung wird so ermöglicht.
Was heisst das konkret? Naja, auf einen Artikel zu Milieuschutz und Gentrifizierung folgt dann eben eine gezielte Werbung, die als Info getarnt daherkommt. Die vielen Spitzel vom Spitzel spielen das Spiel kräftig mit, indem sie Gentrifizierung als “Kampfbegriff” versuchen zu diskreditieren, obwohl es in der wissenschaftlichen Literatur z.B. der Stadtsoziologie + Geografie  weltweit ein analytisches Konzept ist (Ursprung).
Der Treppenwitz der Berliner Geschichte ist dabei, dass Fahrstühle, die in Berliner Altbauten eingebaut werden leider für Rollstühle oft zu eng sind und meistens erst auf einer 1/2 Etage starten.  Genau, sie stoppen dann auch wieder eine 1/2 Etage niedriger oder höher, da sie wegen der Treppenhäuserkonstruktion in U-Form eigentlich nur außen angebaut werden können. Wir sollten also die Spitzel mal mit Gehhilfen, Rollator, Rollstuhl oder Kinderwagen solche Aufzüge benutzen lassen, damit eine objektive, nicht von möglicher verdeckter Werbung getriebene Berichterstattung erfolgt. Ich empfehle einen Besuch beim Orthopäden oder Osteopathen, um frühzeitig auf die Gelenke zu achten, mehr aber sollten wir das Körpergewicht (Obesity in EU) im Blick haben. Vorbeugen war schon immer besser als Heilen mit teuren Hilfsgeräten. Das gilt auch für faire mediale Bericherstattung. Noch mehr Spitzel in immer kleineren räumlichen Einheiten braucht wohl keiner, oder? TagesspiegelAuszug aus: Tagesspiegel Leute Tempelhof/Schöneberg vom 14.6.2022. Nur zu, machen sie “was mit Medien” aber richtig, nein auch nicht mehr so wie Henri Nannen. Radiobeitrag dazu. Hier.

Was mit Medien

Wenn wir Jugendliche nach ihren Berufsvorstellungen fragen, antworten viele ich würde gerne was mit Medien machen. Okay, Daddeln als Beruf ist vielleicht nicht schlecht und in der Tat, wir brauchen viele medienbewertende, kontrollierende, kurz medienkritische Menschen. Meistens lautet eine Präzisierung dann, naja was mit sozialen Medien. Aber, was sind denn soziale Medien im Gegensatz zu unsozialen Medien. Mark Zuckerberg hat das „Framing“ für sein Medienimperium gut hinbekommen. Sozial ist daran der ideale Grundgedanke jede/r könne mit jedem nach Kontaktanfrage sich austauschen. Werbung und Mobbing haben bereits die Oberhand genommen und aus den sogenannten sozialen Medien werden vielfach höchst unsoziale Konsequenzen sichtbar. Nicht erst seit den letzten Jahren versuchen die anderen Medien, auch zu sozialen Medien zu werden. Skandale, dass von Unternehmen gekaufte Artikel publiziert werden. Sponsoring von Beiträgen erreicht oft mediale Verbreitung, ist aber eigentlich verdeckte Werbung.
Aber was sind denn unsoziale Medien? Medien, die nur über eine unsozial hohe Paywall erreichbar sind, könnten wir als unsozial bezeichnen. Das träfe dann auf die öffentlich-rechtlichen Medien zunächst genauso zu wie auf privatwirtschaftlich organisierte Medien. Freibeträge oder Gebührenerlass bei den öffentlich-rechtlichen Medien können sozialen Ausgleich schaffen. Anders bei den sogenannten Printmedien, die ja auch immer mehr versuchen, sich zumindest ein wenig den Touch zu geben, auch so etwas zu sein, wie soziale Medien. Nur wenige Zeitungslesende fragen sich noch beim Bäcker: kaufe ich heute eine Zeitung einer verantwortlichen Art, 2€+X oder doch ein Graubrot in dünnen Scheiben?
Wenn sich dann jedoch herausstellt, ein Mitherausgeber, Dr. Josef Joffe von „Die Zeit“, warnt einen Firmenchef vor kritischer Berichterstattung und schreibt bis vor kurzem weiter Kolumnen in einer Regionalzeitung „Der Tagesspiegel“, früher lokal genannt der Spitzel, dann sind die Selbstreinigungseffekte der notwendigen, unabhängigen Presse nicht mehr hinreichend. Die veröffentlichte Meinung weniger Personen darf nicht mit der öffentlichen Meinung der Vielen gleichgesetzt werden.
Bei den Römern hieß es noch „panem et circenses“. Aus gebt ihnen „Brot und Spiele“ ist für viele Lesende schon Brot oder Spiele geworden. Neue soziale Medien brauchen wir und ja Jungs & Mädels macht was mit Medien, vielleicht Mediensoziologie. https://www.die-zeitungen.de/forschung-studien/zeitungswerbung/https://www.die-zeitungen.de/forschung-studien/zeitungswerbung/

Rote Insel

Es war einmal in Berlin, genauer im Stadtteil Schöneberg, eine kleine rote Insel. Die hatte ihren Namen nicht von dem schönen Morgen- oder Abendrot, sondern von dem rötlichen Charakter seiner Bewohner. Sie konnten sich, wie der Franzose sagt, “se facher tout rouge”. Naja, sie waren wehrhafte Demokrat*innen mit meistens sozialdemokratischer Prägung. Das konnte vor weniger als 100 Jahren jedoch bedeuten, dass Mann oder Frau schnell im Gefängnis landete. Ach ja, aber das ist schon lange her. Julius Leber, Marlene Dietrich und Hildegard Knef machten die Rote Insel bekannt. Geblieben ist außer kleinen Gedenktafeln wenig.
Der Cheruskerpark am Gasometer kämpft als innerstädtische Grünfläche mit dem Klimawandel (Versteppung) und der Überbeanspruchung durch AnwohnerInnen und Beschäftigte. Unweit vom ICE-Bahnhof Südkreuz gelegen haben sich neben dem Euref-Campus auch verschiedene Firmensitze entwickelt. Zumindest architechtonisch kann sich das neue Vattenfall-gebäude von innen sehen lassen. Außen für die Anwohner nicht ganz so spannend. Widersprüche gehören zu Berlin und so regt es kaum noch einen nahe oder auf der roten Insel auf, dass gerade gegenüber vom Parteibüro der tiefroten Linken, ein sehr roter Rolls Royce im Halteverbot parkt. Das sieht nach einer ganz anderen Art der Zeitenwende aus (Piketty zu Ungleichheit). Bei drastisch steigenden Mieten, nicht nur auf der Insel, erklärt sich ein Berliner Referendum zur Enteignung von großen, privaten Wohnungunternehmen als wechselseitige Provokation. Für viele geht jetzt auch noch die Sonne viel früher hinter dem bald zugebauten Gasometer unter. Keine wirklich rosige Aussichten, oder? Doch, vielleicht so ->

Rote Insel, rotes Auto, wo ist das Problem?
Schöne Aussicht?

Renovieren

wie das Verb sagt, renovieren ist ein Tu-Wort. Da wird meistens ganz schön viel getan. Bleibt die Frage, wieviel selber machen und wieviel Unterstützung wird mobilisiert oder zugekauft. Wichtig ist, sich im Klaren zu sein, Renovieren ist ein Prozess und der kann dauern. Oftmals oder immer, länger als geplant. Dieser Blogbeitrag plädiert deswegen bereits vor Beginn des Renovierens einer Selbsthilfegruppe mit entsprechender Denomination beizutreten oder lokal, vor Ort, eine solche Gruppe zu gründen. Aber langsam, warum renovieren Menschen eigentlich? Zu Pfingsten könnten einige glauben, es hätte ihnen der heilige Geist eingeflüstert, andere sind davon überzeugt, es kann nur Teufelswerk sein. Gemeinsam ist beiden Sichtweisen, das eine gehörige Portion Fremdbestimmung mit im Spiel ist. Handwerkliche Tätigkeiten mit ihren Überraschungen und Planungsunsicherheiten im 21. Jahrhundert prägen den Prozess.
Warum noch lassen wir uns aufs Renovieren ein? Wir wollen es schöner, besser oder praktischer in der Zukunft haben. Und dann sind da auch die berüchtigten Rosen in Nachbars Garten. Energiewende, Unwägbarkeiten des eigenen Alterns, Inflation, Investition sowie Hochglanzbroschüren liefern viele Argumente endlich mal mit dem eigenen Renovieren anzufangen. Hören sie sich dann unbedingt die vielfältigen Geschichten von Renovierungsarbeiten anderer Personen an. Okay, es wird länger, teurer, oft ein bisschen anders als geplant. Den Soziologen interessieren beispielsweise die Aushandlungsprozesse, intrafamiliär oder mit Geschäftspartnern. Auch die Veränderungen der Zufriedenheit über den Prozess hinweg, böten ein unterhaltsames Forschungsprogramm. Alle 2 Wochen fragen wir, wie zufrieden sind sie mit Handwerkern, Partnern, Telefonhotlines, Baumaterial, Terminvereinbarungen, Bauausführungen? Sie können die Fragen beliebig fortsetzen. Was waren ihre größten Überraschungen? Notieren sie alles und bringen sie es zur nächsten Sitzung der Selbsthilfegruppe mit. Gerne auch etwas Anschauungsmaterial in Bildern oder emails beilegen. Sie werden sehen, das erleichtert ungemein und beim nächsten bevorstehenden Renovieren sind sie viel entspannter. Auch für ihre Webpages und -spaces geeignet.

Homepage-Sicherheit

Gewalt

Die Betrachtung von Krieg und Kriegsverbrechen im weiteren Kontext als Anwendung von kollektiver Gewalt erlaubt das Einbeziehen eines breiteren Spektrums an sozialwissenschaftlichen Theorien. Auf Putins Nachttisch liegt direkt neben dem Buch von Machiavelli Il Principe, das Buch mit dem Titel Dell’arte della guerra. Ein Satz daraus besagt, lass keine Chance verstreichen, die fast keine Kosten hat (Jakobsen S. 24). Also rein in die Ukraine bevor das Land und Leute zu stark werden. Tor Jakobsen (Hrsg.) hat das in dem Band zu Krieg, Theorien und Forschung gut herausgearbeitet. Die Einleitung listet die Gründe für Krieg. Den Soziologen interessiert besonders die Erwähnung von gesellschaftlichen Strukturen, auf Russland bezogen würde das den Einfluss von Militär auf und Status innerhalb von Gesellschaften einschließen. Besteuerung für die Unabhängigkeit der USA sowie die Bedeutung von grenzüberschreitendem Handel gehören zu diesen Themen. Neben diesen liberalen Thesen für oder zur Vermeidung von Krieg existieren die sogenannten radikalen Argumente, wie Ungleichheit, ausländische Investitionen und Imperialismus, die zu erhöhten Risiken für Krieg führen (S. xii.). Tilly 2003 The politics of collective violence erweist sich als wichtige Lektüre. Kreieren einer Identität zusammen mit political entrepreneurship schaffen gemeinsam Voraussetzungen für kollektive Gewalt. S. 25. Im Konflikt der Ukraine spielen ethnische, sprachliche und kulturelle Ursachen ebenfalls eine Rolle. Auch lässt sich die ökonomische Erklärung von Krieg mit Zugewinn- und Verlustkategorien errechnen für alle beteiligten und sogar scheinbar unbeteiligte Parteien. Kosten-Nutzen-Analyse lässt grüßen mit all ihren Unwägbarkeiten und potenziellen oder faktischen Fehleinschätzungen. Für den derzeitigen Krieg in Europa lässt sich die deprived actor Theorie auf das russische Militär beziehen während die ukrainische Strategie versucht dem rational actor Modell folgt. So stehen sich neben den Heeren auch Theorien gegenüber. Mir gefielen die Sandkastenspiele bei denen nicht wirklich geschossen wurde am besten. Vielleicht ist ja doch noch was in dem Spruch: Putin will wieder Krieg, aber keiner geht mehr hin.

VR im Museum

Das jüdische Museum hat am 8.5.2022 eine Klanginstallation der ganz besonderen Art aufgeführt. Die Pianistin Annika Treutler hatte Werke von Viktor Ullmann aufgeführt, die zusätzlich durch 3D Aufnahme virtuell in z.B zeitgenössischen Musiksälen erklingen kann. Damit lebt die Musik heute weiter in vielen Konzertsälen und Klangräumen. Eine ganz besondere Freude zum Sieg über Nazi-Deutschland. Der Vernichtung von Kulturgütern kann begegnet werden durch innovative Technik. Alexander Stublic hat ebenfalls eine kurze Erläuterung zu seiner VR-Installation Innerland zum Werk von Viktor Ullmann gegeben.
Dem Siemens Arts Program ist hiermit eine einmalige Würdigung der Geschichte zum Tag der Befreiung von Nazi-Deutschland gelungen, bei gleichzeitiger Projektion in eine vielfältige Zukunft. Vergessene Werke können so zu neuem Leben erweckt werden und für nächste Generationen mittels neuer technischer Möglichkeiten übersetzt werden.
Das Live Klavierkonzert von Tamar Halperin hat diesen Ansatz vorzüglich klanglich umgesetzt mit zentraler Referenz zu Viktor Ullmann, eingerahmt von eigenen Kompositionen. Ich verneige mich in Dankbarkeit für eine würdige Feierstunde bei allen Kunstschaffenden und Organisierenden. Hoffentlich bleibt die Möglichkeit des virtuellen Begehens der Aufführungen länger als die geplanten 2 Wochen bestehen. Für mich bleibt diese Erinnerung für immer mit dem 8. Mai verbunden.

 

Galerie Wochenende

In Berlin gab es rechtzeitig zur Hexennacht und am 1. Mai auch noch das Galerie Wochenende. Mit der myartwalk app konnten Rundgänge in der Stadt geplant werden. Viel Anregung parallel zum politischen Wochenende mit reichlich freier Meinungsäußerung. Viele Kunstschaffende und Kunstsammelnde, Mäzene, suchen unaufhaltsam neue Wege der Kommunikation, oftmals mit der Entwicklung neuer Bildsprache oder Raumgestaltung. Sich das zu erschliessen ist kreative Arbeit von allen Beteiligten. Endlich wieder mehr inspirierende Begegnungen.

Über Clausewitz2

Hugh Smith von der „School of Humanities and Social Science” der Australischen Akademie der Streitkräfte überschreibt sein letztes Kapitel im Buch „On Clausewitz“ von 2005 „Farewell to Clausewitz?“. Das Fragezeichen signalisiert die Zweifel, ob Clausewitz nicht weiterhin für uns auch am anderen Ende der Welt eine wichtige Lektüre bleibt. Mit der Verfügbarkeit von Atomwaffen dachten einige Strategen, Abschreckung durch Nuklearwaffen würde neuerliche Kriege als Fortsetzung von Politik verbieten, aber Smith (2005, S.244) argumentiert, die Bedeutung von Clausewitz ist sogar größer geworden, denn die Notwendigkeit zu verstehen, wie Krieg und Politik miteinander verbunden sind, ist größer denn je. Michael Howard wird sogar mit dem Ausspruch zitiert: „We are all Clausewitzians now“ (S.257). Neben einer Ableitung von für das Militär notwendigen Qualifikationserfordernissen (S.264) erinnert er an die Überzeugung von Clausewitz, dass Staaten zum Mittel des Krieges greifen werden, „if the prize is worth it“ (S.266). Clausewitz war in den Worten von Hugh Smith (2005, S.271) hilfreich: „Modern war, used cautiously and carefully as an instrument of policy, avoids the worst though it does not promote the best”. Aus einer historischen und philosophischen Perspektive heraus, unter Berücksichtigung der „analyse clausewitzienne“, schreibt Hugh Smith: „No paradigm of war is right or wrong. It is a matter of how humanity collectively chooses to interpret war. Clausewitz offered a powerful interpretation of war based on the state and its capacity for rational pursuit of national interests that became the dominant- though not undisputed – paradigm for understanding war in Europe… “.

Gallie (1978) bleibt eine wichtige Referenz zum Thema Krieg und Frieden. Anders als Tolstoi hat sein Buch den Titel Philosophers of Peace and War“. Die von ihm gestellte Frage lautet: Wie sollten gute Außenbeziehungen eines Staates aussehen? (S. 141). Die Liste der zu konsultierenden Autoren reicht von Kant, Clausewitz, Marx, Engels bis zu Tolstoi. Abschließend stellt Gallie sich und wir uns die Frage, wann ist der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt? Damit erweitert sich das Spektrum der Fragen allerdings erheblich.

Das Werk von Carl von Clausewitz hat eine beträchtliche Zahl von Analysten auf allen Kontinenten hervorgebracht. Mit dem neuerlichen Krieg in Europa in der Ukraine hat sich die 200-jährige Wirkungsgeschichte (Durieux, 2008, S.21) nochmals verlängert. Wichtig ist die Auseinandersetzung mit Clausewitz im deutsch-französischen Verhältnis, denn nur so können wir die Bedeutung des Politischen betonen und alles daransetzen, dass es zu keiner Austragung von Konflikten mit militärischen Mitteln mehr kommt.  Anders ist es mit der Rezeption von Clausewitz in Russland. Jacobs (1969) hat sich intensiv mit dem russischen Militärstrategen Frunze befasst, der mit einer Grabrede von Stalin gewürdigt wurde. Allein diese Tatsache lässt uns schon zusammenzucken. Der Name Frunze ist in der Militärstrategie verbunden mit dem Begriff der „proletarischen Militärdoktrin“. Der Kommentar von Jacobs zu dieser Strategie ist ernüchternd. Bei der proletarischen Militärdoktrin handelt es sich vornehmlich um eine ritualisierte, im Gegensatz zu einer realistischen Militärdoktrin. In einer solchen vereinigten Militärdoktrin werden Staatsziele, militärische Konzepte, lokale Besonderheiten and „skills“, zusammengeführt und übertragen auf militärische Belange. Frunze wird zitiert mit: „‘unified military doctrine‘ is the aggregate of military attainments and military bases, of practical methods and national skills which the country considers best for a given historical moment and which permeate the military system of the state from top to bottom. Aus dieser Langzeitsicht erklärt sich dann eventuell der “ritualisierte” Nazivergleich von Putin mit Bezug auf die Ukraine als der ewige Feind des Bolschewismus sowie die lokale Verbundenheit mit Teilen der Ukraine als ureigener Teil der größeren, russischen Heimat. Es stehen sich dementsprechend in der Ukraine eine ritualisierte Militärdoktrin einer auf Realpolitik basierenden Militärstrategie gegenüber. Was bleibt? Diplomatie als realistisches und strategisches Ritual bleibt der Ausweg aus der Krise. Krim-Sekt mit Putin? Geschmacklos ja, aber wenn es dem Frieden dient, vielleicht doch nötig?
Hintergrundliteratur: CARLES JOVANÍ GIL S.203-222. in “Pulling together or pulling apart? Perspectives on Nationhood, Identity, and Belonging in Europe” by Belenguer and Brady (eds.) 2020.

Über Clausewitz1

„Sur Clausewitz“ von Raymond Aron (1987) eröffnet die Perspektive auf das Gedankengebäude, Gedankenexperimente, Paradigmen und Theorien des Krieges. Aron beginnt seinen Vortrag 1980 in Berlin mit dem bekannten, markanten Satz von Clausewitz: Der Krieg ist die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln (S.14). Gescheiterte Diplomatie führt dann zur Steigerung der Gewalttätigkeiten. Wichtig ist seine Sicht auf Clausewitz als „théoricien de la guérilla, de l’insurrection populaire“ S.19. Der Begriff der Volksbewaffnung“, den Aron zitiert, haben wir erneut in der Bewaffnung von Personen in der Ukraine beobachten können. Aron hebt in seiner „analyse clausewitzienne“ hervor, dass es nach Clausewitz im Krieg nicht um Siegen geht, sondern um das Erreichen von bestimmten Zielen (S. 33). Siege sind Teil einer Taktik, nicht aber von strategischen Zielen. Das verdeutlicht die rationale Sicht auf Ergebnisse, Einsätze, Verluste und die Zeiten, vor, während sowie nach dem Krieg. Diese rationale Sicht auf Krieg ist erschreckend nüchtern, da Menschenleben nicht emotional in das Kalkül eingehen. Vergangene Kriege werden zur Konstruktion der Theorie verwendet und spätere Autoren wie Raymond Aron verwenden die Theorie zur Subsumierung und Erklärung der verwendeten Strategien späterer Kriege. Eine der überraschend anmutenden Folgerungen von Clausewitz ist beispielsweise die Überlegenheit der Verteidigung gegenüber einem Angriffskrieg. Dieser besteht darin, sich nach anfänglichem Rückzug die Orte der Kämpfe „wählen“ zu können. Zusammengenommen mit der Bewaffnung der Bevölkerung lässt sich im Krieg in der Ukraine, die Möglichkeiten der Verteidigung umreißen. Ein überraschendes Hinauszögern des Krieges ist vielleicht ein kleiner Sieg, es geht aber um die Erreichung von übergeordneten Zielen auf beiden Seiten. Was diese Ziele sind, bleibt zunächst verborgen und ist mehr im Politischen als im Militärischen zu suchen. Russische Innenpolitik, Machterhalt der Militäreliten auf der einen Seite, westliche Anbindung und Unterstützung auf Seiten der Ukraine. So könnte eine „realpolitische Analyse Clausewitzienne“ aussehen. Nüchtern, wie auf einem Schachbrett, eventuell versteckten Regeln folgend, die mit symbolischen Aktionen taktiert, oft die wirklichen Ziele verbergend. Auszug aus Le Monde vom 18.3.2022 ergänzt die Analyse.

Tanz in Berlin

Anne Teresa De Keersmaeker hat mit ihrer Kompanie “Rosas” in dem Stück “Dark Red” in der Neuen Nationalgalerie eine traumhafte Inszenierung ihrer Choreografie verwirklichen können. Zu modernen Klängen einer Querflöte tanzt in dieser riesigen leeren Halle die Choreografin erst selbst bevor eine andere tanzende Person auftritt. Wenige überschwengliche Sprünge oder ausgreifende Bewegungen begleiten die Live-Musik. Nahezu reflektierte, introvertierte Bewegung setzt Kontrapunkte zu der verschwenderischen Architektur von Mies van der Rohe. Die Eingangshalle der Neuen Nationalgalerie ist eine Bühne, wie sie die Choreografin De Keersmaeker liebt, hat sie doch feste Engagements in klassischen Opernhäusern abgelehnt wegen der Beengtheit der Bühnen und Blickwinkel. Die 360° anzusehende Performance und beliebig sitzende oder stehende Zuschauende sind Teil des Konzepts “Dark Red”. Zum Abschluss geht die tanzende Botschaft raus in die Welt und löst das Bühnenkonzept auf. Eindrückliche Bilder entstehen so, die stärker und nachhaltiger sind als das klassische Repertoire, durch Anlehnen an Streetdance und Reflektionen über Bewegung, Raum und Grenzen. Schade, dass es nur 3 Tage mit jeweils 3 Performances Ende März 2022 gab. Vor der einmaligen Kulisse der Nachbarbauten erlaubte das Zusehen wechselnde Bühnenbilder und Erinnerungen an die offenen Ateliers der Berliner Tanzwochen. Nur das Publikum blieb noch etwas steif am Samstag morgens um 11 Uhr. Auf dem Foto unten im Profil ist die aktive Tanzende und Choreografin gleichzeitig Teil und Kopf der Performance.

Claus e witz =/ Clausewitz

Als Studierender der Politikwissenschaft in Wales (U.K) hatte ich die Möglichkeit im Politikfeld der internationalen Politik, mich bereits mit den Schriften und der Rezeption des Militärstrategen Clausewitz auseinander zu setzen. Damals eher überrascht, dass der alte Clausewitz noch so intensiv gelesen wird, haben mich die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine zurück zum Thema Krieg gebracht. Erst jetzt wird uns klar, wie weitgehend uns dieser Krieg beeinträchtigen wird. Nahezu alle Politikbereiche werden davon überschattet. Wer sagts dem Volk oder den Völkern? Es ist wohl das, was die Generäle Russlands wollen. Wiederherstellung ihrer Bedeutung im politischen System wird dabei hohe Kosten verursachen und, je nach Ausgang, ihre Stellung und Einfluss in Russland stärken. Der Einfluss der Generalität und deren Präsenz in den Medien hat bereits in der EU zugenommen. Säbelrasseln gehört wieder zum guten Ton! Moderne Waffen, koste es was wolle. Dabei sind wir gar keine Partei in diesem Krieg zwischen 2 Staaten jenseits unserer Bündnisse. Vertraglisch gesehen, aus moralischer Perspektive geht es um unser westliches auf individueller Freiheit basierendes demokratisches System und die Verteidigung dieser Werte. Das ist ein kostbares Gut. https://www.guggolz-verlag.de/buecher/alle-gesichter-des-todes

Animation

Das Animation Film Festival in Brüssel zeigt zahlreiche Beispiele der animierten Films. “Flee” =”Flüchte” ist der bestplatzierte Film, zu Recht. In einer Pause lässt sich dann neben den Workshops für Kinder und Jugendliche etwas rumspielen. Szene und Figuren sind vorinstaliiert und als Kamera kann dann auch mal ein Handy dienen. Script: Ukrainekrieg und seine Vorgeschichte. Zwei Soldaten üben erst einmal gemeinsam auf Zielscheibe schießen mit Platzpatronen. Plötzlich dreht sich einer von beiden um und richtet seine Waffe frontal auf den vorherigen Partner und schießt mit richtiger Munition. Ende offen.(Abspielen unten).
Geschichten und Lebensverläufe bildhaft erzählen war noch nie so einfach, trotzdem sind das viele Professionelle, die Animationsfilme erstellen. Brave new worlds im Entstehen. Das Metaverse ist nicht mehr weit, … wie heißt dein KF = künstlicher Freund? Was ist deine (Lebens-) Geschichte?

UKR Krieg       Landschafts-fake

Gewalt Training

Wöchentlich wiederholt sich das traurige Spektakel. Gewalt im Umfeld von Fußball ist kaum mehr wegzudenken. Auf 2 Seiten Sport in der Zeitung heute nur eine kleine Randnotiz kein Artikel, kein Kommentar. Ist ja alles nur Spaß, die wollen doch nur spielen. Weit gefehlt. In Berlin mit noch 2 Bundesligavereinen ist dann jede Woche Heimspiel und die Bahnhöfe werden zu Risikozonen, Straßen im Umfeld der Stadien sowieso. So wird seit Jahrzehnten die Verrohung der Gesellschaft trainiert. Früher nur samstags heute an fast allen Wochentagen. Wollen wir wirklich den totalen Fußball? Total verrückt die Welt, von den Kosten und Schäden, die die Allgemeinheit trägt mal ganz abgesehen (Nachtrag aus Süddeutsche vom 7.3.21 Randale in Mexiko – Gewalt stoppt Mexikos Liga). Viele Vereine sind sogar als gemeinnützige Organisationen bei uns deklariert. Ob das bei den Prämien noch gerechtfertigt ist, interessiert nur wenige Steuerexperten. Früher hieß es, wenn Du richtig reich werden willst, gründe eine Religion, ne kleine Sekte tat es auch. Heute gründen/kaufen wir einen Fußballverein oder Champions- Fußballverband.

Meldung Aus Tagesspiegel 17.2.2022 S.17